„Wenn es das ISPR nicht schon gäbe, müsste man es glatt erfinden!“

Wie ein Landshuter Projekt Kindern zu neuen schulischen Perspektiven verhilft

Foto: Manuela Lang, Bezirk Niederbayern

Der Bezirk Niederbayern plant in Passau einen weiteren Standort des „Instituts für schulische und psychosoziale Rehabilitation“ – Ein Blick hinter die Kulissen eines Erfolgsmodells

Was haben die Bundeshauptstadt Berlin und Landshut gemeinsam? In beiden Städten gibt es jeweils eine ganz besondere Einrichtung, die sich um Kinder und Jugendliche kümmert, die als „unbeschulbar“ gelten. Das „Institut für schulische und psychosoziale Rehabilitation“ genießt fachlich einen sehr guten Ruf und kann mit einer hohen Erfolgsquote aufwarten. Grund genug für eine Erweiterung des Projekts. Nach einem Beschluss des Bezirkstags von Niederbayern wird es in wenigen Jahren auch einen Standort in Passau geben. Wie der Alltag im ISPR aussieht, zeigt ein Besuch in der Einrichtung.

„Ich habe gelernt, netter zu werden“, sagt der 13-Jährige Jonas (Name geändert), der seit August 2017 im ISPR betreut wird. An seiner bisherigen Schule geriet er immer wieder mit Mitschülern aneinander – die Folge waren wiederholte Schulverweise und schlussendlich schwänzte Jonas die Schule. Angesichts des drohenden Ausschlusses war das ISPR die letzte Chance, um nicht ohne Abschluss der Schule verwiesen zu werden. „Eine gute Entscheidung“, wie Jonas heute zugibt, denn er habe „echt viel Mist gebaut“. Hier am ISPR hat er gemerkt, „dass auch andere solche Probleme haben“. Mit den Lehrern, Sozialpädagogen und Ärzten kommt er gut klar und durch die kleinen Klassen kann er intensiv an seinen Leistungen arbeiten: „Ich kann immer jemanden fragen, der mir hilft.“ Jonas hat sich vorgenommen, an seinem Verhalten zu arbeiten, denn er weiß, dass das ISPR seine letzte Chance ist, um eine schulische Perspektive zu behalten.

Die grundliegende Idee für eine Einrichtung wie das ISPR ist eine „niederbayerisch-Berliner Koproduktion“ zweier Brüder. Dr. Matthias von Aster ist Chefarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Bezirkskrankenhaus Landshut, sein Zwillingsbruder Prof. Dr. Michael von Aster hat die gleiche Position an den DRK Kliniken in Berlin-Westend inne. Bereits im Jahr 2009 entwickelten beide das Konzept für ein Angebot für Kinder und Jugendliche, die in Folge von Störungen im Sozialverhalten nicht mehr an Regelschulen unterrichtet werden konnten. Der Grundgedanke des ISPR zielt darauf ab, die schulische, pädagogische und kinder- und jugendpsychiatrische Herangehensweise in einer Einrichtung zu vereinen, mit dem Ziel den betreuten Kindern und Jugendlichen die Rückkehr an ihre angestammte Schule zu ermöglichen und ihnen somit die schulische Perspektive, die in Gefahr war, zurückzugeben. Am ISPR am Bezirkskrankenhaus Landshut wirken neben der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Heilpädagogische Tagesstätte und die Schule für Kranke zusammen. Schulleiterin Daniela Wamprechtshammer betont aber, dass das ISPR keine „Ersatzschule“ ist und auch nicht sein will. „Unser großes Ziel ist es, dass unsere Schülerinnen und Schüler nach dem Aufenthalt im ISPR wieder in ihrer angestammten Schule zurechtkommen. Wir sehen uns als ein ‚Trainingslager‘, in dem wir zusammen mit den Kindern, Jugendlichen und  ihren Eltern ab dem ersten Tag an diesem Ziel arbeiten!“ Der Aufenthalt in der Einrichtung ist grundsätzlich auf ein Schuljahr angelegt. Sofern erforderlich ist eine Verlängerung um ein zweites Jahr möglich.

Die Finanzierung wird ebenfalls durch das Zusammenwirken verschiedener Partner gestemmt. Neben dem Bezirk Niederbayern beteiligen sich der Freistaat Bayern (schulisches Personal), die Jugendämter, in deren Zuständigkeit die Kinder und Jugendlichen leben (pädagogische Betreuung), und die Krankenkassen (therapeutische Leistungen).
Auch wenn die intensive Betreuung auf den ersten Blick hohe Kosten verursacht, spart sie dem Steuerzahler dennoch Geld. Ohne eine Einrichtung wie das ISPR müssen Kinder und Jugendliche, die nicht mehr in Regelschulen unterrichtet werden können, häufig in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung untergebracht werden. Neben dem ungleich höheren Kostenaufwand von bis zu 50.000 Euro pro Jahr führt eine Unterbringung in einem Heim zwangsläufig dazu, dass die Kinder außerhalb ihres Elternhauses betreut werden, so der Leiter des Passauer Jugendamtes, Franz Prügl. Das ISPR ist hingegen eine teilstationäre Maßnahme, was bedeutet, dass die Kinder und Jugendlichen weiter im familiären Haushalt wohnen bleiben. Auf diese Weise bleiben die Beziehungen zu Familie und Freunden intakt und wirken im besten Fall stabilisierend auf die Kinder und Jugendlichen ein, die im ISPR betreut werden. Voraussichtlich 2023 soll das ISPR in Passau in Betrieb gehen und zunächst Platz für acht Kinder und Jugendliche bieten. Prügl begrüßt die Entscheidung des Bezirks Niederbayern sehr: „Ich bin überzeugt, dass sich der Bedarf nach und nach erhöhen wird, wenn positive Ergebnisse zu verzeichnen sind.“

Aber wie sieht der Alltag in Landshut aus? Die Schüler kommen morgens in der Einrichtung an. In der Morgenrunde besprechen die Kinder und Jugendlichen zunächst mit ihren Lehrkräften und Betreuern, was sie sich für den Tag vorgenommen haben. Von 8 Uhr bis 13 Uhr findet Unterricht in verschiedenen Fächern statt. Nach dem gemeinsamen Mittagessen werden Hausaufgaben gemacht, wobei die Kinder hier auf die Unterstützung der Betreuer zurückgreifen können. Am Nachmittag stehen Therapiesitzungen (Einzel- und Gruppentherapien) aber auch gemeinsame Freizeitaktivitäten auf dem Plan, ehe die Kinder um 17 Uhr wieder nach Hause fahren. Das Einzugsgebiet des ISPR hat einen Radius von etwa 30 Kilometern. „Andernfalls wären die Schulwege einfach zu weit“, so die Schulleiterin Daniela Wamprechtshammer.

Freizeitaktivitäten und Ausflüge stehen bei den Kindern und Jugendlichen hoch im Kurs, so dass es sich verschmerzen lässt, dass das ISPR auch in weiten Teilen der Ferien geöffnet hat. Der Gruppenalltag bietet dabei eine Vielzahl von Gelegenheiten, um die Regeln eines guten sozialen Miteinanders zu erlernen. Tugenden wie Höflichkeit, Benehmen und Rücksichtnahme stehen im ISPR nicht als Theoriewissen auf dem Stundenplan, sondern werden im täglichen Alltag eingeübt, sagt die leitende Sozialpädagogin, Ingrid Winnerl.  

Eine wesentliche Voraussetzung für die positive Entwicklung der Kinder und Jugendlichen im  ISPR ist ein intensiver Kontakt mit den Eltern. Im sogenannten „Pendelheft“ tauschen sich die Lehrer und Betreuer mit den Eltern täglich über Entwicklungen oder Probleme des Kindes aus. „Um positive Verhaltensänderungen erreichen zu können, müssen zuhause die gleichen Regeln gelten, wie auch im ISPR“, so Wamprechtshammer. Die hohe Erfolgsquote, die die Einrichtung verbuchen kann, ist daher nur möglich, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Bereits bei der Platzvergabe steht daher die gemeinsame Bereitschaft von Eltern und Kindern im Mittelpunkt der Entscheidung. Ohne die Bereitschaft, gemeinsam auch durch schwierige Phasen zu gehen, sei eine Aufnahme aber nicht sinnvoll, so die Schulleiterin. Sie mache sehr oft die Erfahrung, dass die Kinder und Jugendlichen nach einer anfänglichen „Null-Bock-Phase“ die strengen Regeln und konsequenten Grenzen durch die Betreuer zu schätzen wissen. „Die Klarheit und Verlässlichkeit gibt ihnen Orientierung und viele scheuen sich nicht zuzugeben, dass sie wieder gerne zur Schule gehen“, weiß Wamprechtshammer.

Auch Jonas gefällt es mittlerweile gut am ISPR, er hat Freunde gefunden, sogar „bessere als draußen“, wie er sagt, und auch seine Noten haben sich verbessert. Trotzdem wird er im Herbst von der Realschule auf die Mittelschule wechseln. „Das passt wohl besser zu mir“, sagt Jonas. Während des Aufenthalts im ISPR wird auch die Frage thematisiert, ob die eingeschlagene Schullaufbahn und das individuelle Leistungsvermögen zusammenstimmen. Hinter Diagnosen wie ADHS, Störungen des Sozialverhaltens oder Depressionen verbirgt sich nicht selten auch eine erhebliche schulische Überforderung weiß Chefarzt Dr. von Aster aus seiner täglichen Praxis. Der Druck, den manche Eltern ausüben, sei „enorm“, gerade rund um den Übertritt auf weiterführende Schulen. Die Symptome der Kinder sind manchmal Hilferufe und es bedarf intensiver Zusammenarbeit mit den Eltern, dafür die erforderliche Sensibilität zu wecken. Seit dem aktuellen Schuljahr ist im ISPR Landshut eine zweite Gruppe eröffnet worden, die sich an Grundschüler richtet. Im Nu waren die acht Plätze vergeben und auch die Warteliste ist längst voll.

In Passau wird die Einrichtung zunächst mit einer Gruppe starten. Die künftigen Anfragen werden darüber entscheiden, wie die Ausrichtung aussehen wird. Generell gilt: die älteren Schüler haben andere Probleme als die jüngeren. „Sie haben schulisch gesehen schon viele Niederlagen hinter sich und sind häufig schon dazu übergegangen, längere Zeit die Schule zu schwänzen. Bei ihnen gibt es ganz andere Herausforderungen als bei den Kleinen“, erklärt Dr. von Aster, der deshalb langfristig auch in Passau die Notwendigkeit einer zweiten Gruppe sieht. Schließlich liegt das Geheimnis des Erfolgs des ISPR in der individuellen Betreuung. Im Herbst dieses Jahres werden Dr. Matthias von Aster und sein Zwillingsbruder Prof. Dr. Michael von Aster sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Dabei blicken Sie nicht ganz ohne Stolz darauf zurück, vielen Kindern und Jugendlichen in Berlin, Landshut und bald auch Passau mit dem ISPR eine Chance auf einen schulischen Neustart gegeben zu haben. Jonas jedenfalls ist sich sicher: „Wenn es das ISPR nicht schon gäbe, müsste man es glatt erfinden!“

Im Bild: Dr. Matthias von Aster, Chefarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Bezirkskrankenhaus Landshut, und Schulleiterin Daniela Wamprechtshammer erklären das Erfolgsmodell ISPR.